Mittwoch, 23. Januar 2013

Es ist bequem ein Feigling zu sein


In meinen Gedanken bin ich noch bei dem Spiel von Olaria in der Rua Bariri und so durchstöberte ich die letzten Tage meine Texte von Nelson Rodrigues. Dabei fand ich in dem Sammelband „À sombra das Chuteiras Imortais” (Im Schatten der unsterblichen Fußballschuhe, organisiert von Ruy Castro) folgende Chronik, die in der Manchete Esportiva 1955 erschienen ist. Ihr Schauplatz ist die Rua Bariri:


Vor einiger Zeit war ich in der Rua Bariri, um ein Spiel von Fluminense zu sehen. Ich gebe zu: - ich habe Olaria immer für so weit entfernt, entlegen und utopisch, wie Konstantinopel, Istanbul oder Vigário Geral gehalten. Schon auf der Avenida Brasil begann ich eine Nostalgie und ein Exil zu spüren, die sich nur mit denen von Gonçalves Dias und Casimiro Abreu vergleichen lassen. Das Ende vom Lied: es erwuchs in mir eine Abneigung gegen jede Art von Reisen. Aber ich kam an und habe die Partie gesehen. In den ersten dreißig Minuten konnten wir Alles, wirklich Alles, bewundern, außer Fußball. Es war eine Schande, ein alberner Straßenkick, der die fünf Cruzeiros Eintritt nicht wert war. Und, plötzlich, ereignet sich eine unerwartete Episode, ein magischer Zwischenfall, der dem Match fünfter Kategorie eine neue und elektrisierende Dimension verlieh.
Hier die Fakten: - Irgendein Spieler tritt in das Gesicht eines Gegenspielers. Was macht der Schiedsrichter? Er schmeißt sich, stürzt sich mit dem Elan eines Robin Hood und will dem Schuldigen die letzten Worte sagen. Dieser will aber nichts von einer Unterhaltung wissen: - er ohrfeigt den Schiedsrichter. Schauen sie, ein Schlag ist nicht nur ein Schlag: - er ist in Wirklichkeit der bedeutendste und wichtigste Akt allen menschlichen Handelns. In dem Moment, in dem jemand schlägt oder ins Gesicht geschlagen wird, werden alle Anderen in die gleiche Erniedrigung mit einbezogen, verwickelt, mitgerissen. Wir Alle wurden mit der Ohrfeige verbunden.
Man muss aber noch Folgendes hinzufügen: - der Klang! Denn, tatsächlich, von allen Klängen auf Erden, der einzige der keinerlei Zweifel, Missverständnis oder Trugschluss zulässt ist die Ohrfeige. Ja, Freunde: - eine stille Ohrfeige, eine stumme Ohrfeige würde niemanden beleidigen. Im Gegenteil: - Opfer und Aggressor würden sich in der tiefsten und unaussprechlichsten Herzlichkeit in die Arme fallen. Es ist der fürchterliche Klatsch der sie aufwertet, der sie dramatisiert, der sie unwiderruflich macht.
Nun: - Bei der Ohrfeige in Olaria fehlte das auditive Element nicht. Aber die Episode hat ihr Grauen noch nicht erschöpft. Es fehlte noch der Ausgang: - die Flucht des Mannes. Denn der geschlagene Schiedsrichter kannte keinen anderen Ausweg: - Er nahm die Beine in die Hand. Wir stimmen überein: - eine so eindeutige und triumphale Panik, ohne jegliche Verstellung, ohne jegliche Zurückhaltung, ist spannend. Ich sage „spannend“ und füge zu: - selten oder gar einzig.
Normalerweise ist nur das Heldentum bejahend, unverschämt. Der Held zeigt immer eine einzigartige Unverschämtheit: - Er stellt sich vor, als ob er die eigene Reiterstatue wäre. Aber der Feigling nicht. Die Feigheit klagt eine krampfhafte Schande an. Ich habe einen Freund, der Folgendes macht: - wenn er heim kommt, sperrt er sich in einen Schlupfwinkel ein, verschließt die Schlüssellöcher und erst dann, in dieser rigorosen Intimität, lässt er sich von seiner Frau schlagen. Aber hier draußen, im Tageslicht, ist er ein Tartarin, ein Flash Gordon, der in der Lage ist einem ganzen Polizeibataillon entgegenzutreten.
Nun gut. Im Gegensatz zu anderen Feiglingen, die sich verstecken, die leugnen, die ihre eigene Feigheit entstellen – ist der Schiedsrichter wie ein Karussellpferd gerannt. Es sei angemerkt: Es gibt heute eine monströse Verbreitungstechnologie, die jede Art von Geheimnis undurchführbar macht. Und sofort wurde der Schiedsrichter von der Presse, den Radioreportern umringt. Die fotografierte, ausgestrahlte und übertragene Feigheit projizierte sich unwiderstehlich. Und als dann, im Folgenden, die Polizei dem Schiedsrichter Schutz anbot, rieb dieser noch die Zähne, sabberte er noch den Terror. Als das Match dann vorbei war passierte die Menge in geschmeidiger, langsamer Art Richtung Ausgang. Aber wir alle, die wir nur versteckt feige sein können, fühlten Neid, Abscheu und Ärger über diesen Kleinmut der seine zynische Standarte ausspannte.


Vigário Geral ist ein Stadtteil von Rio de Janeiro. Gonçalves Dias und Casimiro Abreu waren Dichter des brasilianischen Romantismus im 19. Jahrhundert.

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