Freitag, 22. März 2013

Drachen mit Sporen und Kamm



Gestern spielte Brasilien ein Freundschaftsspiel gegen Italien, das 2:2 endete. Diese Spielpaarung wird natürlich immer an die WM-Finalspiele 1970 und 1994 erinnern. Ich  nehme das zum Anlass, erneut eine der berühmtesten Chroniken von Nelson Rodrigues zu übersetzen und zwar die, die am Tag nach dem Finale 1970 veröffentlicht wurde. Es handelt sich schon um eine sehr reife Phase von Nelson, in der er alle seine stilistischen Elemente bereits entwickelt hatte. In der Chronik sehen wir die typischen Verdreifachungen, die Tiermetapher und die Referenzen an klassische Themen, wie Napoleon, die den sogenannten Neobarock von Nelson ausmachen. Ich weiß nicht, ob es sich, um eine der besten Chroniken handelt, der Text gewinnt seine Bedeutung vielmehr aus dem historischen Kontext, auf den er sich bezieht.
Für deutsche oder andere europäische Leser ist die Chronik wahrscheinlich erschreckend nationalistisch. Ich denke, man muss da etwas darüber hinweg sehen, denn Nelson wollte sicherlich nicht bierernst genommen werden und den Fußball eher fühlen, statt nüchtern analysieren. Natürlich trifft er mit seiner Beschreibung den Kern des brasilianischen Minderwertigkeitskomplexes, den er belächelt.
Einige Erklärungen:
-          Der Präsident war der Diktator General Médici.
-          Walther Moreira Salles ist der Besitzer einer Bank.
-          Vadinho Dolabela war ein Vertreter der Schickeria Rio de Janeiros.
-          Und das Finale 1938 war natürlich Italien x Ungarn und nicht Deutschland x Italien, wie Nelson fälschlicherweise annimmt.
Viel Spaß mit der Chronik:


Freunde, das war der schönste Sieg aller Zeiten im Weltfußball. Diesmal gibt es keine Entschuldigung, keinen Zweifel und keinen Trugschluss. Seit dem Paradies gab es keinen Fußball mehr, wie den unsren. Ihr erinnert euch, was unsere „Versteher“ über die europäischen Stars gesagt haben. Es war, als ob wir nur Holzfüße oder Fischköpfe wären. Wenn Napoleon die Buhrufe erlitten hätte, die unser Team gegeißelt haben, dann hätte er nicht einmal eine Schlacht mit Zinnsoldaten gewonnen.
Es war leichter eine Giraffe, als einen Optimisten in unseren Redaktionen zu finden. Der Optimist wurde wie ein geistig Beschränkter gesehen und bewertet. Als das Team hier abreiste, heulten die Hyänen, die Geier und die Schakale: - „Sie kommen nicht über das Viertelfinale hinaus!“ Es wurde eine Pessimismus-Kampagne angekurbelt. Und die „Versteher“ rieten: „Bescheidenheit, Bescheidenheit!“. Als ob der Brasilianer ein armer Teufel ohne Mutter und Vater wäre. Ich kann mich daran erinnern, als João Saldanha zum Nationaltrainer berufen wurde. Wir hatten eine Unterredung auf offenem Gelände. Und João sagte zu mir: - „Wir werden auf jeden Fall gewinnen! Der Pott gehört uns!“.
Die Wenigsten glaubten an Brasilien. Einer war der Präsident, der zu mir sagte: - „Wir werden gewinnen, wir werden gewinnen“ – und noch am Samstag gab er seinen Tip für das Finale ab: - „Brasilien, 4:1“. Aber die „Versteher“ schwuren, dass der brasilianische Fußball 30 Jahre Rückstand hätte. Und die berühmte europäische Geschwindigkeit? Diese Geschwindigkeit existierte unter ihnen und für sie. Aber Brasilien hat gegen Alle im Spaziergang, einfach im Spaziergang, gewonnen. Mit unserer genialen Langwierigkeit haben wir die dumme Geschwindigkeit unser Gegner begraben.
Ich habe immer geschrieben (Gott sei Dank verstehe ich nichts vom Fußball), aber ich habe geschrieben, dass das Finale von 1966 Antifußball, ja ich wiederhole, ein fürchterliches Gebolze, war. Aber wehe, wehe uns. Die „Versteher“, wenn sie nur von England oder Deutschland sprachen, dann sabberten sie schon in die Krawatte. Sie wollten die Genialität, die Magie, die Schönheit unseres Fußballs unterbinden. Aber, ohne es zu wollen, leisteten die „Versteher“ mit ihrem Schwachsinn und ihrer Unfähigkeit einen großen Dienst, denn sie ließen die Schnurrhaare unseres Teams wachsamer sein, als die Borsten des Wildschweins.
Kurios ist, dass die „Nicht-Versteher” an die Nationalmannschaft glaubten. Zum Beispiel: - Walther Moreira Salles. Er hat die Leitung einer Bewegung übernommen, die das Team finanziell unterstützt hat. Es hat nicht an Leuten gefehlt, die ihm sagten: - „Tu das nicht. Das ist eine Gurkentruppe.“ Aber kurios ist, dass Walther Moreira Salles in keinem Moment sein Vertrauen in die Nationalmannschaft verlor. Oft hat er mir gesagt: - „Ich weiß, dass wir gewinnen werden“.
Ich unterbreche das Schreiben, um ans Telefon zu gehen. Es ist Vadinho Dolabela, der letzte Bohemien, der letzte Romantiker Brasiliens. Er weint am Telefon: - „Nelson, wir haben gewonnen, Nelson! Der Pott gehört uns!“ Dass er uns gehören würde steht schon seit 6.000 Jahren fest. Noch nie hat eine Nationalmannschaft ein so perfektes Turnier gespielt, wie Brasilien 1970. Wir haben alle Pseudokobras besiegt. Alle Finale sind schwierig. Deutschland x Italien 1938 benötigte der Verlängerung. Als das Spiel vorbei war, legten sich die Spieler mehr tot als lebendig auf den Boden. Deutschland x England, erneut Verlängerung, sowohl 1966, als auch 1970. Brasilien hat keine Minute zusätzlich benötigt.
Gestern war es ein Spaziergang für uns. Das Tor für Italien, das franziskanische Tor Italiens, haben nicht die Italiener erzielt. Es war eine Spielerei von Clodoaldo. Dieser geachtete Dribbler aus Sergipe, 400-jährig, beschloss einen Absatzkick zu machen. So erhielt der Feind den Pass und das Tor als Geschenk, umsonst. Im Gegensatz dazu waren die brasilianischen Tore unveränderbare und ewige Kunstwerke. Der Kopfball von Pelé, zum ersten Zwischenstand, war etwas Überraschendes. Er stieg leicht auf, fast beflügelt, und versenkte den Ball im Eck.
Zusammengefasst: Jedes Tor der Unsrigen war ein Schatz. Schon am Vorabend erklärten die größten Autoritäten des Fußballs einstimmig, dass Brasilien das Spiel gewinnen müsse, weil es besser wäre. Das war das schreiend Offensichtliche, das die Welt erkannte, nur nicht die „Versteher“ hier. Bevor ich es vergesse, muss ich noch das Bewiesene beobachten: - Wir haben gewonnen und dabei dem Gegner ein Bad der Paulina Bonabarte gegeben. Man sagte, dass die Italiener hervorragend wären. Sie haben 4 x 1 gegen uns verloren und es hätte 4 x 0 ausgehen müssen. Oder besser: nicht 4 x 0, sonder 5 x 0 und ich erkläre es: - als Rivelino in der letzten Minute die ganze Mannschaft ausdribbelte, in den Strafraum kam und mit Ball und Körper ins Tor gekommen wäre, erlitt er den zynischsten, den offensichtlichsten Elfmeter. Es war ein sicheres Tor. Doch wir mussten auch noch gegen einen bösartigen Schiedsrichter antreten.
Freunde, ewiger Ruhm für den dreifachen Weltmeister. Dank sei dem Team, denn jetzt müssen die Brasilianer sich nicht mehr schämen Patrioten zu sein. Wir sind 90 Millionen Brasilianer, mit Sporen und Kamm, wie die Drachen des Pedro Américo.

Keine Kommentare: