Freitag, 4. April 2014

Garrincha: : „Die Krone ist auf dem falschen Haupt.“


Schon vor zwei Wochen war ich in Pau Grande, komme aber erst jetzt dazu die Erlebnisse aufzuschreiben. In dem Dorf Pau Grande, am Fuß des Gebirges von Petropolis wurde Garrincha geboren. Grund genug für Wolfgang, Anja und mich aufs Land zu fahren. Im Auto sprachen wir über unsere Erwartungen, die eigentlich nicht besonders groß waren. Wir wussten, das Pau Grande wegen einer englischen Textilfabrik gegründet wurde (in der Garrincha und seine Familie gearbeitet hat), die sich strategisch an der Eisenbahnlinie und der alten Straße nach Petropolis angesiedelt hatte. Der Ort soll weiterhin idyllisch und dörflich sein, aber wegen seiner Abgeschiedenheit kann man nicht wirklich Referenzen an Garrincha erwarten.


An der Mautstelle des Autobahnrings fragen wir nach dem Weg, der nicht einfach ist, denn man muss eine Ausfahrt nehmen, um auf der anderen Spur wieder in Gegenrichtung die eigentliche Abfahrt zu erreichen. So kommen wir in Pau Grande an. Der Ort ist so verschlafen, wie wir es uns vorgestellt hatten. Er wird von einer Avenida durchquert, die direkt auf die Fabrik führt. Links und rechts davon stehen die typischen Arbeiterhäuschen in einheitlichem Stil.


Wir parken und werden schon kritisch beäugt. Die erste Person, mit der wir sprechen – Rodrigo – erzählt uns alle Einzelheiten aus dem Leben von Garrincha und führt uns zum sehr schönen Bolzplatz der Stadt. Die Textilfabrik wurde verkauft und produziert jetzt Limonade aus dem Bergwasser. Das ganze Dorf arbeitet dort – wie früher. Dann zählt uns Rodrigo noch alle Nachfahren von Garrincha auf und entlässt uns am Haus seiner Enkelin Sandra.


Es sticht zwischen den anderen Häusern hervor, da es knallgelb angestrichen ist und Bilder von Garrincha an ihm angebracht sind. Wir sprechen mit Sandras Mann, der uns erklärt, dass ihr Haus von einer TV-Sendung hergerichtet wurde, die die Garage zu einer Sportsbar umgebaut haben. Wir besuchen die Bar, die sehr fremd in Pau Grande wirkt, und bestellen Getränke und Pasteten. Dann kommt Sandra: „Die Krone ist auf dem falschen Haupt.“, erklärt sie uns. Damit will sie sagen, dass, ihrer Meinung nach,  nicht Pele, sondern Garrincha der König des Fußball sei. Danach beklagt sie sich, dass die Regierung nicht mehr in Pau Grande investiert, dass es kein Garrinchamuseum gibt und, dass die wenigen Gäste nur Fotos von ihrer Bar machen und nichts konsumieren.


Immerhin versucht sie ein Business aufzuziehen und damit ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ihre Mutter und Tanten hatten da eine andere Einstellung. Sie wollten, als Töchter Garrinchas Geld verdienen und stellten Interviews in Rechnung. Die meisten von Garrinchas direkten Nachkommen leben in sehr schwierigen Lebensverhältnissen.


Wir ziehen weiter und sehen das örtliche Stadion, die Turnhalle, die Garrincha-Grundschule und eine Büste. Es ist schon witzig, dass die Schule nach Garrincha benannt wurde, das Stadion aber nicht. Die Lampen der Straßenbeleuchtung sind in Form von Fußbällen gemacht. Irgendwie atmet das Dorf den Geist von Garrincha, die direkte Spurensuche gestaltet sich aber trotzdem schwierig. Wir hören noch mehrfach die Klagen, über das Vergessen der Regierung und dass nicht in Pau Grande investiert wird.


Auf der Rückfahrt überlegen wir, was wirklich gemacht werden könnte. Würde es Sinn machen ein staatliches Garrinchamuseum in Pau Grande zu errichten? Die ernüchternde Antwort ist: Wohl kaum. Die Anfahrt war extrem schwierig und nur machbar, weil wir ein Auto haben und Portugiesisch sprechen. Es gäbe eine Zuglinie in der Nähe, die aber als gefährlich und verwahrlost gilt. Außerdem: wenn man das Museum gesehen hat, was macht man dann? Im Gegensatz zu den oberen Städten des Gebirges ist Pau Grande unglaublich heiß und stickig. Es gibt nicht einmal eine Pension oder Hotel. Das angrenzende Mage ist sogar geradezu hässlich. Warum sollte also ein ausländischer Tourist hierher fahren? Für Brasilianer ist wohl am schwierigsten, dass der Ortsname „großer Stock“, aber eben auch „großer Penis“ bedeutet.


Hier folgt noch der Auszug über Garrincha aus meinem Buch, was eine Antwort auf die Tese von Alex Bellos darstellt:  

Garrincha, eine der großen mythischen Gestalten des Weltfußballs, wurde 1933 als Manoel Francisco dos Santos in Pau Grande, im Hinterland von Rio de Janeiro, geboren. Hauptarbeitgeber in seinem Geburtsort, dessen Name mit „Großer Penis“ übersetzt werden könnte, war eine englische Textilfabrik, in der fast alle Männer des Dorfes arbeiteten. Auch Garrincha unterschrieb dort mit 14 Jahren seinen ersten Arbeitsvertrag und kickte bald in der Betriebself. Dort wurde man auf sein Talent aufmerksam und so bekam er Arbeitserleichterungen, um seine Kräfte für die Spiele zu schonen. Er wird oft als der unbekümmerte Junge vom Land beschrieben, der seine freie Zeit damit verbrachte, dem Ball oder den Tieren des tropischen Regenwalds nachzujagen. Daher auch sein Spitzname Garrincha: Strohschwanzschlüpfer, ein kleiner, brasilianischer Vogel. Bald fand der junge Fabrikarbeiter aber auch Gefallen an der Jagd auf das andere Geschlecht. Seine Eroberungen wurden legendär.
Garrincha wird gerne mit Curupira, einer Figur der indianischen Mythologie verglichen. Dieser Pumuckel-ähnliche Waldkobold blickt nach vorne, während seine Füße nach hinten verdreht sind. So kann er unkontrollierbare und unvorhersehbare Haken schlagen. Garrincha wurde mit zwei gegensätzlich verdrehten Säbelbeinen geboren, die jegliche sportliche Betätigung unwahrscheinlich machen. Doch gerade diese O-Beine ermöglichten ihm die unvorhersehbaren Dribblings, die seine Karriere bestimmten und ihn berühmt machten.
Mit 19 Jahren wurde er von dem Verein Botafogo in Rio de Janeiro entdeckt und verpflichtet. Die Legende erzählt, er habe alle seine Verträge blanco unterschrieben und wurde von dem Verein, bei dem er fast seine gesamte Karriere blieb, ausgenutzt. Bei Botafogo traf er auf Spieler wie Didi, Zagallo und vor allem Nilton Santos, dem Rückgrat der Nationalmannschaft, die 1958 nach Schweden zur WM fuhr.
Nach den Enttäuschungen bei den Turnieren in Brasilien und der Schweiz wollte Brasilien 1958 unbedingt den Titel gewinnen. Trainer Vicente Feola wurde mit fast unbeschränkten Mitteln und Befugnissen ausgestattet. Ein zwölfköpfiger Trainerstab mit Ärzten, Psychologen und Assistenten wurde ihm zur Seite gestellt. Wie schon 1938 begann die Vorbereitung Monate vor der WM mit einem Trainingslager, diesmal in Poços de Caldas. Ein Gesundheitscheck offenbarte den erschreckenden Gesundheitszustand, in dem sich die Nationalspieler befanden: 470 zu behandelnde Zähne, von denen 32 gezogen werden mussten, Würmer, Parasiten und sogar Syphilis. In dem dazugehörigen Intelligenztest schnitt Garrincha schlecht ab: mit dem bei ihm ermittelten IQ hätte er in Brasilien nicht einmal Bus fahren dürfen.
Schon zwei Wochen vor dem ersten WM-Spiel kam die Seleção nach Europa, um sich mit Testspielen in Italien vorzubereiten. An dem Mythos Garrincha wurde dann auch in Schweden fleißig weitergestrickt. Zum einen zeugte Garrincha in Schweden einen Sohn namens Ulf, zum anderen wurde er überall als naiv und geistig beschränkt dargestellt. So kursiert die Geschichte, er habe in Schweden ein Radio gekauft. Doch nachdem ihm ein Mitspieler sagte, dass dieses ja nur Schwedisch sprechen würde, habe Garrincha das Radio weggeworfen.
Nebenbei wurde auch noch Fußball gespielt. Für die Partien gegen Österreich (3:0) und England (0:0) wurde Garrincha nicht berücksichtigt. Dafür zeigte er im letzten Vorrundenspiel gegen die Sowjetunion (2:0) sein ganzes Können und wurde zu einem festen Bestandteil der Nationalmannschaft. Brasilien besiegte anschließend Wales (1:0), Frankreich (5:2) und im Finale Schweden (5:2). Der unbekümmerte, naive und verspielte Stil Garrinchas war mitentscheidend für den ersten Titel des Fußballriesen Brasilien. Fortan wollte sich das Land exakt mit jenen Eigenschaften identifizieren, die João Lyra den Brasilianern zuvor negativ zugeschrieben hatte. Man wollte die Curupira des Weltfußballs sein.
Doch der Höhepunkt in Garrinchas Karriere sollte noch folgen - und gleichzeitig seinen Niedergang einleiten. Garrincha war seinerzeit mit seiner Jugendliebe Nair verheiratet, mit der er insgesamt neun Kinder hatte. 1961 lernte er die berühmte Sambasängerin Elza Soares kennen und begann eine Beziehung mit ihr. Seine erste Ehe wurde geschieden. Just zur selben Zeit stürmte Elza mit dem Titel „Ich bin die Andere“ die Charts. Zuvor hatte die brasilianische Öffentlichkeit stets den Mantel des Schweigens über frühere Eskapaden gedeckt. Die nun öffentlich zur Schau gestellte Untreue aber war zu viel, und das Paar wurde schwer angegriffen.
Im Vorfeld der WM 1962 beruhigten sich die Dinge. Erneut bereitete der Fußballverband alles akribisch vor. Es wurden sogar chilenische Prostituierte ausgewählt und einem Gesundheitscheck unterworfen, damit sie den Spielern gefahrlos zur Verfügung standen. Das Weltturnier 1962 wurde zum großen Schaulaufen Garrinchas. Er gewann den Titel quasi im Alleingang und erzielte vier Tore. Die Vorrunde überstand Brasilien mit Siegen gegen Mexiko (2:0) und Spanien (2:1) und einem Unentschieden gegen die Tschechoslowakei (0:0). In der K.o.-Runde besiegte man im Viertelfinale England (3:1) und im Halbfinale Gastgeber Chile (4:2). In diesem Spiel wurde Garrincha wegen eines Revanchefouls, das nur der Linienrichter gesehen hatte, vom Platz gestellt. Für das Finale gegen die Tschechoslowakei wäre er damit eigentlich gesperrt gewesen.
Zum Zeitpunkt der Berufungsverhandlung befand sich der französische Schiedsrichterassistent jedoch schon wieder zuhause, und der Schiedsrichter konnte nur wiederholen, dass er das Foul nicht gesehen habe. Die Sperre gegen Garrincha wurde daraufhin aufgehoben. Brasilien konnte das Finale also in Bestbesetzung bestreiten und sicherte sich mit einem ungefährdeten 3:1-Sieg den zweiten WM-Titel. Nach dem Schlusspfiff stürmte Elza Soares in einem grün-gelben Kleid in die Duschen der Umkleidekabine und bedeckte Garrincha inmitten seiner nackten Mitspieler mit Küssen.
Die Weltmeisterschaft 1962 in Chile gilt als die WM Garrinchas. Er befand sich auf seinem Karrierehöhepunkt. Nach der Rückkehr nach Rio de Janeiro spielte er eine brillante Saison in der Stadtmeisterschaft von Rio de Janeiro. Das Finale gegen Flamengo gilt als das beste Spiel seiner Laufbahn und läutete zugleich das Ende seiner Karriere ein. Die krummen Beine belasteten die Knie zu sehr und er musste operiert werden. Anschließend fand er nie mehr zu alter Form zurück.
Gleichzeitig wuchsen seine Probleme außerhalb des Spielfeldes. Noch heute gilt Garrincha in Brasilien als das Schmuddelkind des Fußballs und wird eher kritisch beurteilt, ja oft sogar in den Bestenlisten vergessen. Mit seiner naiven und unbekümmerten Art verkörpert er die ungebildete und instinktgetriebene Seite Brasiliens, die von Lyra so kritisiert wurde. Seine Frauenaffären, besonders die mit Elza Soares, wurden ihm zum Verhängnis. Nach dem Militärputsch 1964 wurde das Paar vom Geheimdienst beobachtet, später durchsuchte man sogar ihr Haus. 1970 sahen sich beide gezwungen, zwei Jahre in Rom zu verbringen, um dem Rummel zu entfliehen.
Dazu kam Garrinchas Alkoholismus-Krankheit, mit der er quasi aufgewachsen war, denn seine Eltern gaben ihren Kindern Schnuller, die mit Honig und Schnaps gefüllt waren. Nach einem von Garrincha verschuldeten Autounfall, bei dem Elzas Mutter starb, fiel er in Depression. An Fußballspielen war nicht mehr zu denken. In den frühen 1980er Jahren wurde er mehrfach volltrunken auf der Straße gefunden und verstarb am 20. Januar 1983 nach einer letzten durchzechten Nacht.

Damit verfügte das Leben Garrinchas über sämtliche Elemente, die ihn als exotischen Vertreter des südamerikanischen Fußballs interessant machen. Diese Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn mag für Europäer attraktiv sein, für Brasilianer ist sie Ausdruck von Unprofessionalität und Unsportlichkeit und wird als primitiv abgelehnt. Garrincha wurde für seine Landsleute zu einem neuen Barbosa. Ein Mann, der vom Ruhm in die Asche gefallen ist. 

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