Immer
wieder werde ich gefragt, wie denn die Stimmung in Brasilien sei. Freuen sich
die Brasilianer auf ihre WM? Ich antworte dann immer: „Die Stimmung ist
komisch, denn zum einen wird über Misswirtschaft, Korruption und schlechte
Organisation bei der WM gewettert, aber zum anderen haben sich alle meine
Nachbarn und Kollegen um Tickets beworben.“ Es gibt also ein Gefühl der
abgrundtiefen Skepsis und Enttäuschung im Bezug auf die WM-Organisation und ihr
Vermächtnis, aber es ist inzwischen eine Euphorie im Bezug auf die sportliche
Seite zu spüren.
Die
Brasilianer sehen ihre Nationalmannschaft inzwischen als Favorit und fordern
den Titel. Der Scheidepunkt für beide Seiten dieser Entwicklung war natürlich
der Confed Cup 2013. Er hat gezeigt, dass die Seleção gewinnen kann und dass
die Brasilianer demonstrieren können.
Diese
Woche war ich auf einem Event der Marketing-Firma In Press in Rio de Janeiro,
die eine Erhebung in der brasilianischen Presse durchgeführt hat. Bei Kaffee
und Kuchen stellte sie ihre Ergebnisse vor, die meinen Eindruck der
Stimmungslage verstärkten. Die Meinungsforschungsabteilung der In Press
untersuchte Artikel aus Zeitungen und den digitalen sozialen Netzwerken. Im
Folgenden möchte ich ein paar Ergebnisse vorstellen.
In Press
definierte vier Bereiche, über die berichtet wurde: Sportereignis,
Organisation, Infrastruktur und Demonstrationen. Während über Infrastruktur und
Organisation ausgeglichen berichtet wurde, wurde über die Demonstrationen sehr
negativ und den Sportevent WM sehr positiv berichtet.
Die
negative Berichterstattung im Bezug auf die Demonstrationen verlangt nach einer
Erklärung, denn eigentlich fühle ich Rückhalt für die Forderungen die auf
Brasiliens Straßen 2013 gestellt wurden. Aber zu Beginn des Jahres 2014 wurde
jegliche inhaltliche Forderung der Demonstranten ausgeblendet und nur noch über
Gewalt, Vandalismus und den möglichen Imageschaden im Ausland berichtet. Dadurch
verloren die Demonstrationen massiv an Legitimität in der breiten Bevölkerung.
Außerdem wurde ein Klima der Angst kreiert, das sicherlich Viele davon abhalten
wird während der WM zu einer Demo zu gehen.
Ein anwesender
Sportjournalist von SporTV – Marcelo Barreto – merkte an, dass Brasilien
sicherlich eine bessere WM als Südafrika organisieren werde und somit viele
düstere Schreckensszenarien übertrieben sind. Aber es wird eben auch keine WM,
die besser ist, als die WM 2006 in Deutschland. Seiner Meinung nach war das
aber die Anspruchshaltung der Regierung, OK und FIFA bei WM-Vergabe und somit
auch die Erwartung der Bevölkerung. Brasilien sollte mit Hilfe der WM komplett
reformiert und verändert werden. In Brasilien bestand die Hoffnung ab
12.06.2014 ein neues, modernes, reiches, sauberes und funktionierendes Land zu
haben, das sich zu den Großmächten der Welt zählen darf. Dieses Projekt sei
gescheitert.
Ich
glaube, er hat hier viel Richtiges gesagt. Die Brasilianer verknüpfen mit der
WM den Wunsch modern zu werden und wollen zu einer Weltmacht werden. Das klingt
komisch. Aber in Brasilien zählt der zweite Platz nichts und so herrscht eine
ständige Unzufriedenheit über alle Bereiche in den Brasilien nicht am ersten
Platz steht (und das sind viele). Das ist auch der Grund, warum Brasilianer
sich bei Siegen bei WMs als Erste-Welt-Land sehen. Wenn Brasilien die WM
gewinnt, dann kann der gemeine Brasilianer richtig arrogant werden.
Damit
setzt die brasilianische Bevölkerung auf den WM-Sieg, der als einzige Chance
gesehen wird, um aus dieser WM mit gehobenem Haupt zu gehen. Die Leute kaufen
Tickets und der Fanartikelmarkt brummt. Aber von den Leuten, die das
Weltmachtprojekt vergeigt haben will man nichts wissen. Deshalb gab es kein
50-Tage-zur-WM-Fest, bis heute sieht man keine FIFA-WM-Fahnen auf der Straße,
usw.
Es ist
sogar so, dass sich seit Monaten kein Politiker mehr traut über die WM zu
sprechen, selbst der Kritiker Romario ist verstummt. Marcelo Barreto ist das
auch aufgefallen und er beklagt: „Die WM hat im Land des Fußballs keinen
Fürsprecher! Es mag absurd klingen, aber es ist so. Lula war ein frenetischer
Verfechter der WM, aber wir haben es geschafft jetzt eine Präsidentin zu haben,
die Fußball nicht mag.“ Die Einschätzung zu Dilma Rousseff ist mir neu, aber
mit der Beobachtung, dass es keinen Verfechter gibt, stimme ich überein.
Neben den
Demos und der angespannten Stimmung, sind natürlich die Parlamentswahlen im
Oktober diesen Jahres. Niemand will sich im Bezug auf die WM zu weit aus dem
Fenster lehnen und wartet lieber ab. Diese Beobachtung wird auch von den Daten
von In Press gestützt. Mit weitem Abstand ist der FIFA-Generalsekretär Jerome
Valcke die meist zitierteste Person im Bezug auf die WM. Damit bestimmt er die
Diskussion.
Jerome Valcke, FIFA
|
25,3%
|
Dilma Rousseff, Präsidentin
|
11,4%
|
Aldo Rebelo, Sportminister
|
10,0%
|
Ronaldo, OK
|
8,1%
|
Sepp Blatter
|
5,3%
|
Die
Parteien werden im WM-Monat Juni ihre Ernennungsveranstaltungen durchführen.
Die wichtigsten Kandidaten für das Präsidentenamt sind Dilma Rousseff (PT),
Aecio Neves (PSDB) und Eduardo Campos (PSB). Die Arbeiterpartei PT pokert sogar
richtig hoch und wird Dilma Rousseff am 28.06., also relativ spät, zur
Kandidatin erklären. Wenn zu diesem Zeitpunkt Brasilien rausgeflogen ist oder
irgendeine größere Panne bei der WM passiert ist, dann könnte das ein Eigentor
werden.
Übrigens
sind auch die Demos sehr abgeflaut. In den letzten Wochen gab es mehrere brutale
Polizeiaktionen, die eher eine Warnung waren: „Schaut her, wie wir reagieren
werden, wenn während der WM etwas passiert!“. Die Brasilianer würden so gerne
ihren Stereotypen zwischen Gewalt und Partyvolk entfliehen. Aber genau die
Gewaltexzesse der Polizei, die überzogenen WM-Hoffnungen und die Konzentration
auf das Abschneiden der eigenen Mannschaft verstärken die Stereotypen wieder.
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